Schnack am Sonntag mit Yasemin H.
Es ist Sonntag, früher Abend im Spätherbst. Draußen hat sich die Dunkelheit bereits über die Stadt gelegt. Nach einigen vergeblichen Versuchen meinerseits, die Kamera zum Laufen zu bringen und einem Neustart des altersschwachen Laptops, klappt’s dann doch mit der Skype-Verbindung mit Yasemin. Auch sie kenne ich noch aus meiner Zeit beim Bookshop und obwohl wir uns seit einigen Jahren nicht mehr gesehen haben, fällt es uns nicht schwer, ins Gespräch einzusteigen. Und abgesehen von ein paar Lücken im Lebenslauf (ich von Zürich über Hamburg nach Berlin gezogen und sie nicht mehr Berufsschullehrerin) ist es, als hätten wir das letzte Mal erst gestern oder letzte Woche gesprochen.

Sie erzählt mir von ihrer Buchhandlung in Winterthur, dem Buch am Platz, die sie zusammen mit ihrer Geschäftspartnerin Tanja Bhend 2016 übernommen hat. Die Buchhandlung habe ich kurz nach ihrer Übernahme besucht. Sie geht direkt auf einen schönen Platz hinaus, wie es sie in der Altstadt viele gibt, und lädt trotz kleiner Fläche zum Verweilen ein. Die beiden sind Buchhändlerinnen aus Leidenschaft – und das merkt man. Die Pandemie die draußen vor den Fenstern wütet tat ihrem Geschäft aber nichts zur Sache. Im Gegenteil, die Leute scheinen wieder zurück zum Buch als Medium zu finden. Netflix ist ja dann doch irgendwann ausgeschaut. Wir sprechen auch über die Buchhandlung meiner Tante, über die Berufsschule der Buchhändler, über Buchblogs und natürlich auch über Bücher.
Als Yasemin aufsteht, um einen Roman auszuwählen, den sie vorstellen kann – natürlich nicht ohne zu betonen, wie schwierig es ist, sich auf einen Titel beschränken zu müssen – habe ich Zeit, neidisch auf ihr Bücherregal zu starren, das vom Boden bis zur Decke reicht. Sie zieht These Women von Ivy Pochoda aus dem Regal, nach dem sie sich bei mir vergewissert hat, das auch englische Titel in Frage kommen. Das Rotlicht-Viertel in L.A. ist der Schauplatz dieses literarisch geschriebenen Thrillers. Mit viel Einfühlungsvermögen schildert Pochada das Treiben eines Serienmörders aus Sicht unterschiedlicher Frauen, die mit dem Fall in Berührung kommen – die junge Polizisten, die sich dem Fall annimmt, die Mutter eines Opfers, die Frau des Mörders. Sehr sensibel wird aufgezeigt, wie unsichtbar insbesondere die Frauen am Rande der Gesellschaft auch heute noch sind.
Wein am Wochenende mit Andrea K.
Natürlich klappt die Zoom-Verbindung mit meiner Tante am Samstagabend nicht sofort – das tut sie doch nie. Aber irgendwie schaffen wir es dann doch, dass zumindest der Ton und mein Bild funktioniert. Wir haben uns schon einige Monate nicht mehr gesehen und tauschen uns darüber aus, was so geschehen ist in der Zwischenzeit. Auch mein Onkel schaltet sich zwischendurch aus dem Hintergrund ein.
Meine Tante Andrea ist, seit ich mich erinnern kann Buchhändlerin. Sie ist eine der wenigen Personen, die sich noch traut, mir Bücher zu schenken (als könnte man doppelt gekaufte Bücher nicht umtauschen). Schon von klein auf hat sie meine Lektüre beeinflusst. Ich erinnere mich noch ganz genau, wie sie mir das erste Mal von diesem Jungen erzählte, der unter der Treppe wohnt und der einen Brief für eine Zauberschule bekommt. Regener, Grjasnowa, Bulgakow, Lappert, Rowling, Yanagihara – nur um einige Autorinnen und Autoren zu nennen, die ich dank ihr entdeckt habe.

Seit 2016 betreibt sie ihre eigene Buchhandlung, den Doppelpunkt in Uster, gemeinsam mit ihrer Partnerin Barbara Maurer. Und letztes Jahr hat sich die Arbeit bezahlt gemacht: Der Doppelpunkt wurde zur Schweizer Buchhandlung des Jahres 2019 gewählt. Auch die Pandemie kann ihnen nichts anhaben. Die kleinen Buchhandlungen sind die einzigen Gewinner in der Kulturlandschaft. Andrea meint dazu nur: Das darf man ja fast nicht sagen. Aber das Geschäft läuft so gut, wie lange nicht mehr. Und ist das nicht eine schöne Abwechslung zu hören, dass es wenigstens in einer kulturellen Branche den kleinen, feinen gut geht? Oder noch simpler: Ist es nicht einfach eine schöne Abwechslung, positive Nachrichten zu hören? Ich persönlich freue mich unglaublich für Andrea, Yasemin und alle anderen Betreiber*innen kleiner, unabhängiger Buchhandlungen, die aktuell viel zu tun haben. Zu oft waren sie diejenigen, die in den letzten 20 Jahren nicht mit den großen mithalten konnten. Die Leute wollen aus ihren vier Wänden ausbrechen und in andere Welten, andere Leben eintauchen. Netflix und Co. bieten nicht diese komplette Immersion in eine Geschichte, wie es Bücher tun.
Eine solche Geschichte ist die von Ocean Vuong, die mir Andrea vorstellt. Auf Erden sind wir kurz grandios heißt der Titel und es ist ein sehr autobiographisches Werk des ursprünglichen Lyrikers. Andrea betont, dass sie den Roman gewählt hat, da er für sie für eine Art der Literatur steht, den sie unglaublich gerne mag. Eine Geschichte, in die man so komplett eintaucht, die einem so fremd ist und man sie trotzdem versteht und erkennt, wie viele Parallelwelten es eigentlich gibt.
In diesem Roman Vuong schreibt seiner Mutter einen Brief, in dem er relativ objektiv von seinem Trauma, von diesem Gefühl berichtet, dass er wiederum durch das Trauma seiner Mutter und seiner Großmutter, die während dem Vietnamkrieg in die USA ausgewandert ist, in sich trägt.
My booksellers of confidence – pt. II
Summaries on Sundays with Yasemin H.
It’s early evening on a Sunday in late fall. Outside, darkness has already fallen over the city. After a couple of failed tries and a new start of my elderly laptop, I manage to start my camera and get a Skype connection to Yasemin. I know her from my time at the bookshop and even though we haven’t seen each other for years, it feels easy to get the conversation started. Apart from a couple of blind spots on our respective CVs (I moved from Zurich to Hamburg to Berlin and she quit teaching as a vocational school teacher) it feels as if we’d just spoken to each other yesterday or last week.
She tells me about her bookshop in Winterthur, the Buch am Platz, she’s taken over with her business partner Tanja Bhend in 2016. I visited the bookshop shortly after the opening. It’s entry lies on a beautiful square in the old town and even though it is tiny it feels very warm and welcoming. The two are booksellers out of passion and you can feel it. The pandemic that is raging outside our windows didn’t diminish their business. On the contrary, people seem to be circling back on the medium that is the book. We also speak about my aunt’s bookshop, vocational school for booksellers, book blogs and last but certainly not least: books.

As Yasemin gets up to pick which novel she’ll recommend – not without emphasizing how hard it is to pick only one single title – I have time to enviously scan her book shelf that reaches from floor to ceiling. She pulls These Women by Ivy Pochada from the shelf and starts telling about it. The redlight district in L.A. sets the stage for this poetically written thriller. With a lot of empathy, Pochada tells the story of a serial killer from the perspective of different women touched by this case – the young police woman, who tries to solve the case, the mother of a victim, the wife of the murderer. In a very sensitive way, this novel shows how invisible especially women are, when they live on the margins of society, even today.
Wine on weekends with Andrea K.
Of course, the Zoom connection with my aunt does not work right away – but it never does, does it? Somehow, we get the sound and my camera working. We haven’t seen each other in a couple of months and catch up first. My uncle also injects himself into our conversation from time to time.
My aunt Andrea has been a bookseller since I can remember. She is one of the only people who still dare to gift me books (like I couldn’t return them, in case I already own or read them). From a very young age, she’s influenced my reading. I still remember the first time she told me about this weird boy, living under the staircase who gets an invitation to a magic school. Regener, Grjasnowa, Bulgakow, Lappert, Rowling, Yanagihara are just a few authors she made me discover over the years.

Since 2016 she owns her own bookshop with her business partner Barbara Maurer: The Doppelpunkt in Uster. Last year the hard work paid off, they won the title of Best Swiss Bookshop in 2019. Also, the pandemic does not seem to affect business. On the contrary, small independent bookshops seem to be the only ones winning in the cultural field at the moment. Andrea says: I’m almost afraid to saying this out loud. But business is thriving, as it hasn’t been in a long time. Isn’t it nice to hear that at least someone is doing well in the culture sector for once? Or to hear some positive news in general? I, personally, am so happy for Andrea, Yasemin and other shop owners of small independent bookstores. They’ve been the losers in the past 20 years way too often, due to the big bad companies, I will not name here. People need an escape from their realities and want to dive into other worlds, other lives. Netflix and co. simply do not offer the same complete immersion into a story, as books do.
One such story is by Ocean Vuong, which Andrea recommends. On Earth We Are Briefly Gorgeous is the title of an autobiographical work by the former lyricist. Andrea insists that she chose this novel as a representative of a type of literature that she very much enjoys. A story to delve into completely, so strange and far away from our lives and yet understandable, that makes us realise how many parallel worlds there actually are on our planet.
Vuong writes a letter to his mother, rather objectively, recounting his life experience and his trauma, which stems from his mother’s and his grandmother’s trauma, who emigrated to the US during the Vietnam war in a very lyrical prose.