Alltagsfreuden und Aprikosensaft

Philippe Delerm ist ein Wort-Magier. Er verfügt über die Fähigkeit, mit wenigen Worten eine Szenerie so lebhaft vor das innere Auge zu zaubern. Es sind bekanntlich die kleinen Dinge im Leben, die kleinen Alltagsfreuden, die er in seinem Bändchen «La première gorgée de bière» („Der erste Schluck Bier“) beschreibt. Zum Grossteil sind es Momente, die wir alle kennen: Der erste Schluck eines kühlen Bieres an einem heissen Sommertag oder der süsse Geschmack wilder, reifer Brombeeren, die man am Wegesrand pflückt und sich direkt in den Mund steckt.  Delerms Stil hat mich dazu inspiriert, eine Kurzgeschichte zu schreiben. Es gibt gewisse Gerüche und Geschmäcker, die einen direkt in die Vergangenheit teleportieren. Einer dieser Geschmäcker, der mich immer nach Italien verreisen lässt, egal wo ich gerade bin, ist der Geschmack von Aprikosensaft:

Aprikosen schmecken für mich nach mehr als nur nach Obst.

Für mich schmeckt Aprikosensaft wie ein italienischer Spätherbst. Nach Cornetti im Nachtzug, kurz vor der Ankunft in Bari. Nach gleissenden Tagen am Strand, das Wasser lau und träge. Wir sind vielleicht vierzehn und wünschen uns nichts sehnlicher als die erste Liebe. Es ist die Zeit der heimlichen Schwärmereien. Harmlosen Schwärmereien. Es ist die Zeit, in der sich unsere Körper gerade verändern und wir entdecken unsere Sexualität. Kleine Brüste in den ersten nicht mehr ganz so kindlichen Bikinis. Wir sind keine Mädchen mehr, aber mit Sicherheit auch noch keine Frauen. Das Lächeln des süssen Italieners hinter der Theke der Gelateria, in der wir uns täglich unsere Portion Pfefferminz-Eis holen, lässt uns erröten und kichernd die Eisdiele verlassen. Die Serviette dieses Eises wird sorgfältig aufbewahrt und ins Tagebuch eingeklebt.

In der Ferienwohnung in diesem süditalienischen Städtchen werden im Zimmer direkt nach Ankunft erstmal alle Kreuze und Heiligenbilder abgehängt. Zu viel Katholizismus für westliche Teenies. Die heilige Jungfrau hat in unserem kleinen Reich nichts zu suchen. Nachmittags, nach der Rückkehr vom Strand, nach dem wir den mitgeschleppten Sand grosszügig in der ganzen Wohnung verteilt haben, liegen wir abwechslungsweise auf dem Sofa und sehen uns Scooby Doo auf italienisch an, während die andere duscht, sich das Salz, den Sand und den Schweiss vom Körper spült. Wir daddeln auf unseren Tastentelefonen herum, schreiben Freundinnen. Oder vielleicht einem Schwarm. Wir schreiben unsere kindlichen Einträge in Tagebücher. Sie ist da akribischer als ich. Wir schreiben Postkarten. Tonnenweise. Fassen das Erlebte in kurze Sätze.

Succo die albicocca – Aprikosensaft – schmeckt für mich deshalb nicht nur nach Fruchtnektar. Sondern nach Unbeschwertheit, nach Sonne und Strand. Nach La dolce vita und einer tiefen Freundschaft.

Wenn ich es geschafft habe, euch für einen Moment nach Süditalien zu entführen, überlegt nur, was ein Autor mit wesentlich mehr Übung mit eurer Vorstellung anstellen kann. Macht euch bereit auf Zeitreisen in die kleinen Momente des Alltags, der Kindheit, der Vergangenheit. So lebendig, als hättet ihr die Momente erst gestern erlebt.

Lesen lässt uns oft in Erinnerungen eintauchen.

Joy and Juice

Philippe Delerm is a magician with words. He has the ability to describe a scenery so vividly with little words. It’s the small things in life, the little everyday pleasures  that make living worthwhile. And in his short volume «La première gorgée de bière» („The Small Pleasures of Life“) he describes these moments wonderfully: The first sip of a cool beer on a hot summer’s day or the sweet taste of wild, ripe blackberries that you find on the side of the road and shove into your mouth directly. Delerms style of prose got me inspired to write a short piece. Some certain scents and tastes can transport you directly into a moment in the past. One of these tastes is apricot juice for me. It allows me to travel to the South of Italy in a heartbeat and wherever I am.

Girl reading at a river
Reading is like diving into a memory.

For me, apricot juice tastes like late fall in Italy. Like cornetti in a night train, shortly before arriving in Bari. Like glinting days at the beach, the water lazy as we are. We are around fourteen and wish for nothing more than our first love. It’s the time of secret crushes, innocent crushes. Our bodies are changing, and we are discovering our sexuality. Small breasts in our first not so innocent bikinis. We are no girls anymore, but certainly no women yet either. The smile of the cute Italian behind the counter at the gelateria where we get our daily dose of peppermint ice cream sends us out the door, blushing and giggling. The napkin is carefully kept as a token and later glued into the diary.

In the rented holiday flat in this small town of Southern Italy, the crosses and the images of saints are taken down immediately after our arrival. Too much catholicism for western teenies. The Virgin Mary does not belong in our small sanctuary. In the afternoon, after our return from the beach, having generously spread the sand all over the apartment we take turns lounging on the sofa and watching Scooby-Doo in Italian, while the other is taking a shower. Washing off all the salt, sand, and sweat from our bodies. We play around on our phones, texting girlfriends, or maybe a crush. We write our childish entries in diaries. She is way more thorough than I am. And we write postcards, loads of them. Putting all of the experiences into short sentences for the ones left behind at home.

Succo di albicocca – apricot juice – does not only taste like fruit nectar to me. But of lightheartedness, of the warm sun on bare skin and the beach, of La dolce vita and a deep friendship.

Apricots and book in macrame tote
Apricots taste like more than just fruit to me.

If I managed to kidnap you to Southern Italy for a second, just think what an experienced author can do with your imagination. Get ready for a time travel to the small moments of everyday lives, childhood and the past. So lively as if you experienced it yesterday.

Philippe Delerm – La première gorgée de bière (Der erste Schluck Bier / The Small Pleasures of Life)

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